Der Nahe und Mittlere Osten wird verstärkt als Region der Krise, der Instabilität und der staatlichen und gesellschaftlichen Fragilität wahrgenommen. In der öffentlichen und wissenschaftlichen Betrachtung erfahren vor allem die innerregionalen Spannungen, die Charakteristika autoritärer Regime, die konfessionellen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen sowie die Einflussnahme externer Akteure vermehrt Aufmerksamkeit.
Nachdem die „arabischen Umbrüche“, die im Dezember 2010 in Tunesien begannen und sich danach auch in unterschiedlicher Form auf Ägypten, Libyen, Syrien, Bahrain und andere arabische Staaten auswirkten, eine Diskussion anregten, die sich intensiv mit den Forderungen breiter Gesellschaftsschichten nach mehr politischer und wirtschaftlicher Partizipation, mehr Freiheit und Mitbestimmungsrechten beschäftigte, lässt sich in den letzten Jahren wieder eine verstärkte Hinwendung zum konfliktualen Potenzial der Region konstatieren. Der Bürgerkrieg in Syrien, die humanitäre Krise im Jemen, die gegenrevolutionären Kräfte der arabischen Golfmonarchien, die instabile Lage im Irak sowie der Vormarsch des sogenannten Islamischen Staates (IS) und anderer jihadistischer Gruppierungen dominieren die aktuelle Debatte, in der zumeist sicherheitsrelevante Aspekte wie die Auswirkung des Jihadismus sowie von Flucht und Migration auf die Stabilität der Region und auf Europa betont werden. Dieses Bild wird der politischen, wirtschaftlichen, sozialen, ethnischen, kulturellen und religiösen Komplexität des Gebietes jedoch keineswegs gerecht.
Eine solche Betrachtungsweise negiert vielmehr die äußerst dynamischen Transformationsprozesse in den verschiedenen Gesellschaften der Region, welche durch religiöse, politische und gesellschaftliche Bruchstellen charakterisiert werden und sich sehr unterschiedlich entwickeln, sodass jedes Land und jede Gesellschaft einer eigenen differenzierten Analyse bedarf, um auf diese Weise ihren sozialen, kulturellen und politischen Besonderheiten gerecht zu werden.
Während in den sogenannten Transformationsländern wie Tunesien, Ägypten und Libyen autoritäre Herrschaften gestürzt wurden und die Gesellschaften dieser Staaten nun mit vielfältigen Herausforderungen kämpfen, um langfristige Transitionen zu realisieren, haben sich insbesondere die Wirkmacht und der regionale Einfluss der arabischen Golfstaaten in den letzten Jahren deutlich erhöht. Hierbei fungiert das Königreich Saudi-Arabien als politischer, religiöser und wirtschaftlicher Vorreiter und „Gegenrevolutionär“, indem es außenpolitisch Demokratisierungstendenzen in Nordafrika und die vorübergehende Machtübernahme der Muslimbrüder in Ägypten ablehnt und eine Agenda der Bewahrung des Status quo verfolgt. Hierbei agiert das Königreich auch als einflussreicher Akteur in den Regionalkonflikten in Syrien, Jemen und Bahrain und verfolgt zunehmend eine interventionistische Regionalpolitik unter dem jungen Kronprinzen Muhammad Bin Salman, welche vor allem durch die Rivalität mit dem Iran geprägt wird. Gleichzeitig durchläuft das Königreich aber auch einen fundamentalen und problematischen inneren Transformationsprozess, muss sich von der traditionellen Abhängigkeit vom Erdöl lösen und die gesellschaftlichen Umbrüche ausbalancieren, um die Macht des Königshauses zu bewahren.
Die anderen kleineren arabischen Golfstaaten konnten in den letzten Jahren ihre wirtschaftliche und politische Macht ausbauen und können nicht mehr als Erfüllungsgehilfen Saudi-Arabiens betrachtet werden. Stattdessen befinden sich Katar auf der einen und Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Bahrain sowie Ägypten auf der anderen Seite seit Juni 2017 in einem Konflikt, der sich in der Blockade Katars niederschlägt. Diese Krise bedroht die Einheit des Golfkooperationsrates und destabilisiert die Region zusehends. Gleichzeitig zeichnen sich ernste Interessendivergenzen zwischen den eigentlichen Partnern Saudi-Arabien und den VAE (z. B. beim gemeinsamen militärischen Vorgehen im Jemen) ab, während kleinere Staaten wie Oman, Bahrain oder Kuwait unter diesen innerregionalen Konflikten leiden.
Der jahrelange Bürgerkrieg in Syrien hat die einstige friedliche Protestbewegung endgültig marginalisiert. Auch militante Oppositionsgruppen konnten durch die Truppen des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad in Zusammenarbeit mit seinen Verbündeten Iran und Russland weitgehend besiegt werden, sodass sich in Syrien eine Wiederherstellung des Status quo ante unter al-Assad abzeichnet. Als Konsequenz dieses Konflikts sind mehrere Millionen Syrer(innen) in die Nachbarländer geflohen, sodass der Bürgerkrieg in den Ländern Irak, Jordanien und Libanon zu gravierender wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Instabilität beigetragen hat.
Im Jemen leidet die Zivilbevölkerung unter katastrophalen humanitären Bedingungen, die durch den militärisch ausgetragenen Konflikt unterschiedlicher interner und externer Akteure noch verschärft werden. Ähnlich wie in Syrien wirkt sich auch hier die iranisch-saudische Rivalität konfliktverschärfend aus.
Der Iran ist nicht nur in Syrien zu einem überaus einflussreichen Regionalakteur aufgestiegen und hat von der anwachsenden Instabilität in den arabischen Ländern profitiert. In Syrien, im Irak und im Jemen präsentiert sich der Iran als präsenter politischer Spieler, was vor allem von Saudi-Arabien und seinen Partnern mit großer Sorge betrachtet wird. Durch die Aufkündigung des Nuklearabkommens durch US-Präsident Donald J. Trump ist die vorsichtige Annäherung zwischen der Islamischen Republik Iran und der internationalen Staatengemeinschaft gefährdet, was auch regionale Implikationen unweigerlich mit sich bringt.
Die antiiranische Grundhaltung Donald Trumps verschärft die Gräben in der Region und verschlechtert gleichzeitig die transatlantischen Beziehungen. Amerikas engster Verbündeter Saudi-Arabien sieht sich durch Präsident Trumps Unterstützung darin ermutigt, vehement und kompromisslos gegen iranische Verbündete vorzugehen, was eine Beilegung der mannigfaltigen Konflikte erheblich erschwert.
Aus all diesen Gründen wird die Region des Nahen und Mittleren Ostens als Krisenherd wahrgenommen. Dennoch lassen sich auch Anzeichen einer gesellschaftlichen Pluralisierung, einer zarten Demokratisierungsbewegung und einer intensivierten Politisierung in allen Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens und Nordafrikas konstatieren. Sozioökonomische Problemfelder wie steigende Bevölkerungszahlen, hohe Arbeitslosigkeit, Nepotismus, Korruption und mangelnde Zukunftsperspektiven für die zumeist sehr junge und desillusionierte Bevölkerung waren die Auslöser für zivile und gewaltbereite Proteste, die in allen Ländern der Region mittel- und unmittelbare Auswirkungen gehabt haben. Die diversen Regierungen müssen für diese Probleme Antworten finden, um ihre Macht zu sichern und die Zukunftsperspektiven ihrer Gesellschaften zu verbessern. Dies bietet – trotz einem Wiedererstarken der autoritären Repression – limitierte Räume für zivilgesellschaftliches Engagement und forciert die politische Diskussion. Somit befindet sich die Region in einem historischen Umbruch, der differenziert und analytisch verfolgt werden muss, um die heterogenen und ambivalenten Entwicklungen besser nachvollziehen zu können.
Hieran anknüpfend will die KFIBS-Forschungsgruppe „Naher/Mittlerer Osten und Nordafrika“ durch fundierte Analysen und entsprechende Problemlösungsansätze einen wissenschaftlichen Beitrag zur Verbesserung des Verständnisses von dieser weltpolitisch relevanten Region leisten. Dabei sollen auch wissenschaftliche Debatten über die Rolle der Türkei in der Region und für Europa, über Lösungsperspektiven im Nahostfriedensprozess sowie über geostrategische Interessen der USA, der Europäischen Union (EU) und Deutschlands im Nahen und Mittleren Osten und in Nordafrika angeregt und geführt werden.
Die Arbeitsschwerpunkte der Forschungsgruppe „Naher/Mittlerer Osten und Nordafrika“ lauten wie folgt:
I. Geografisch:
- Afghanistan
- Arabische Golfstaaten
- Ägypten
- Israel/Palästina
- Irak
- Iran
- Jemen
- Libanon
- Sudan
- Syrien
- Tunesien
- Türkei
II. Thematisch:
- Islamismus/Terrorismus
- Salafismus
- Politische Theorie im Islam
- Israelisch-palästinensischer Konflikt
- Politik, Gesellschaft und Kultur der Islamischen Republik Iran
- Reformen in der arabischen Welt
- Innen- und Außenpolitik ausgewählter Staaten des Nahen und Mittleren Ostens sowie Nordafrikas
- Politische Systeme und innere Strukturen einzelner Länder der Region des Nahen und Mittleren Ostens sowie Nordafrikas
- Türkei-EU-Beziehungen, deutsch-türkische Beziehungen und weitere Themen mit Türkei-Bezug
- Transatlantische Politik gegenüber dem Nahen und Mittleren Osten sowie gegenüber Nordafrika
- Euromediterrane Beziehungen/EU-Mittelmeerpolitik
- Translokale Gewaltakteure
- Grundlagen des Islamic Banking
- Nation-Building und Failed States
- Arabischer Nationalismus und europäischer Imperialismus/Kolonialismus
- Stabilität autoritärer Regime
- Demokratisierung
- Gesellschaftliche und politische Entwicklungen in den Maghrebstaaten
- Rüstung und Entwicklung im Nahen Osten
- Wirtschaftliche Transformation im Nahen und Mittleren Osten
- Zivilgesellschaftliche Entwicklungen
Mitglieder der KFIBS-Forschungsgruppe sind:
Büşra Aksoy B.A., Master-Studentin
Dr. rer. pol. Yaşar Aydın (FG-Sprecher)
Franziska Döring B.A., M.A., Doktorandin
Pauline C. Fischer B.A., M.A., Doktorandin
Rebekka Frank, IHK-Zertifikat/1. juristisches Staatsexamen, B.A.
Eliza Friederichs B.A., MA, Doktorandin
Alena Sander B.A., MA, Doktorandin
Daniel Sidiqie, Bachelor-Student