Lateinamerika

(Bildnachweis: Dr. Jakob Schwörer, KFIBS e. V.)

Die lange Zeit unter politischer Instabilität leidenden lateinamerikanischen Staaten haben bis vor wenigen Jahren kontinuierlich an politischer Stabilität und wirtschaftlicher Stärke hinzugewonnen. Dies führte auch zu einem größeren Einfluss auf die internationale Politik, in der sich vor allem Südamerika als eigenständiger Akteur profilieren konnte. Von 2015 bis 2019 kamen in zahlreichen Schlüsselstaaten des Subkontinents (Argentinien, Chile, Kolumbien, Peru und Brasilien) rechte bis rechtsextreme Regierungen an die Macht, die sich viel weniger regional und international engagierten als andere Regierungen zuvor. Seit 2019 scheint diese „rechte Welle“ wieder von einer zweiten „rosa Welle“ abgelöst zu werden. Im Jahr 2022 konnten in Kolumbien, Chile und in Brasilien linke Kandidaten die Wahlen gewinnen, welche der regionalen und internationalen Ebene einen höheren Stellenwert einräumen – kurzum: „Latin America is back!“

Die Region steht heute vor immensen Herausforderungen: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine im Februar 2022 hat die nationalen Wirtschaften unter Druck gesetzt und vertieft vorher bestehende politische Klüfte auf regionaler Ebene. Die von der Europäischen Union (EU) und den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) verhängten Sanktionen und der daraus resultierende internationale Anstieg der Rohstoffpreise haben erhebliche und zugleich asymmetrische Auswirkungen auf die Inflation. Hierbei besteht die Gefahr, dass es zu einer Unterbrechung der Versorgungsketten kommen könnte – und dies zu allem Überfluss auch noch inmitten einer weiterhin bestehenden COVID-19-Pandemie, von der die lateinamerikanischen Staaten besonders stark betroffen sind.

Innenpolitisch haben die meisten Länder der Region mit stark polarisierten Gesellschaften zu kämpfen, die durch aggressiven Populismus, Fake News sowie durch parallele Lebenswelten in den sozialen Netzwerken gekennzeichnet sind. Noch vor 20 Jahren weitestgehend marginale Elemente, wie z. B. die sehr konservativen Pfingstkirchen, gewinnen heutzutage kontinuierlich an Einfluss und rücken viele Debatten weiter nach rechts, insbesondere wenn es um Frauen- und Minderheitenrechte geht.

Während die regionalpolitischen Integrationsbemühungen in den letzten Jahren größtenteils zum Erliegen gekommen sind, haben einige Krisen und Konflikte mittlerweile eine regionale Dimension angenommen. So zeigt sich beispielsweise in Nicaragua eine Welle von Protesten, Repressionen und gescheiterten Verhandlungen unter dem umstrittenen amtierenden Präsidenten Daniel Ortega. Flüchtlingsbewegungen aus Süd- und Mittelamerika in Richtung den USA reißen nicht ab – und im Ölstaat Venezuela hat sich der Konflikt zwischen der regionalen bolivarischen Regierungspartei und der Opposition dramatisch verschärft. Als Folge der Wirtschaftskrise sind bis Ende des Jahres 2021 über sieben Millionen Venezolaner(innen) geflüchtet, was fast 25 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. In Nicaragua und Venezuela findet eine gespaltene internationale Gemeinschaft keine Einigung, um die Konfliktparteien zu begleiten und die Krise in diesen beiden Ländern zu bewältigen. Dabei wird das verstärkte Agieren von externen Akteuren wie China und Russland sichtbar – bei einem gleichzeitigen Einflussverlust der USA.

Alle diese Krisen haben gravierende Folgen für die gesamte Region: Bestehende soziale Ungleichheiten, die stagnierenden regionalen Integrationsprojekte und Zukunftsfragen wie der Klimawandel, die demografische Entwicklung, Digitalisierung und Globalisierung geraten angesichts vorhandener Krisen in den Hintergrund.

Die KFIBS-Forschungsgruppe „Lateinamerika“ möchte die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Dynamiken dieser in Deutschland eher stiefmütterlich behandelten Region analysieren und diskutieren. Dabei werden sowohl lokale Herausforderungen sowie regionale, transnationale und globale Zusammenhänge und Dimensionen reflektiert als auch die Rolle internationaler Politik kritisch hinterfragt. Auch finden Fragestellungen zum politischen Wettbewerb, zur Konfliktanalyse und zu etwaigen Konfliktlösungsansätzen sowie zu Friedensprozessen Einzug in die Arbeit der besagten regionalen KFIBS-Forschungsgruppe. Dabei sprechen sich die Forschungsgruppenmitglieder für einen Theorienpluralismus aus: Neben klassischen Ansätzen bieten beispielsweise auch die sogenannte Kritische Theorie sowie alternative Entwicklungstheorien geeignete wissenschaftliche Anknüpfungspunkte in diesem Kontext. Die Forschungsgruppe „Lateinamerika“ des KFIBS e. V. sieht außerdem ihre Aufgabe darin, komplexe Prozesse einer politisch interessierten Öffentlichkeit in einer allgemein verständlichen Weise zugänglich zu machen.

Die Arbeitsschwerpunkte der Forschungsgruppe „Lateinamerika“ lauten wie folgt:

  • Außen- und Sicherheitspolitik:
    – Interamerikanische Beziehungen, Regionalpolitik und Organisationen (MERCOSUR, OAS usw.)
    – Internationale Beziehungen Lateinamerikas (Europa, Asien, Afrika, USA und Süd-Süd-Beziehungen)
    – Lateinamerika und internationale Organisationen (UN, G20 und WTO)
    – Konflikte und Friedensprozesse (innerstaatliche bewaffnete Konflikte, der sogenannte Drogenkrieg, Transitional Justice und Sicherheitssektorreform)
  • Politik und Gesellschaft der Länder Lateinamerikas:
    – Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, politischer Wettbewerb und (vergleichende) politische Systeme
    – Wirtschafts-, gesellschafts- und sozialpolitische Fragen („Buen Vivir“ als alternatives Entwicklungskonzept, Bildungspolitik, soziale Sicherung, Internationale Politische Ökonomie [IPÖ], Gewalt, Minderheiten und Religion)
    – Nationale und transnationale Reaktionen sowie Maßnahmen in Bezug auf die Migrations- und Flüchtlingskrise
    – Umweltpolitik, vor allem das Spannungsfeld wirtschaftliche Entwicklung versus Umwelt- und Klimaschutz
    – Einfluss der akademischen Diaspora auf die Entwicklung in den Herkunftsländern (Vergleich mehrerer Staaten miteinander)

Mitglieder der KFIBS-Forschungsgruppe sind:

Anderson Argothy Almeida, PhD (Gastautor)

Margarita Cuervo Iglesias, B.A., M.A., Doktorandin

Dr. phil. Ekrem Eddy Güzeldere (FG-Sprecher)

Frederik Holtel B.A., M.A.

Nadia Kovalcikova B.A., MSc

Celina Menzel B.A., M.A.

Lovis L. Pape, Student der Rechtswissenschaft

Alina M. Ripplinger B.A., M.A.

Dr. rer. pol. Jakob Schwörer

Rafael D. Uribe Neira, B.A., M.A.

Julio Yuquilema Yupangui (Degree in Agricultural Engineering), M.Sc.